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Historie unserer Kirche

Von der Kemenate zum Kloster

Im Jahre 1361 hatte man im Bereich des Hohen Chores die Gerüste gerade abgebaut. Dieser Teil der Kirche war den Mönchen vorbehalten. Zu seiner Weihe am Sonntag Rogate, war Bischof Heinrich III. von Hildesheim angereist. Altar und Chor, auch noch im Bau befindliche Kirche, wurden der Hl. Jungfrau Maria, dem Hl. Franziskus und dem Hl. Bernward. Die Wahl dieser Heiligen ist gewiss auch programmatisch zu verstehen. So war die Gottesmutter Patronin des Bistums Hildesheim, Bernward war der wohl bedeutendste Bischof von Hildesheim und Franziskus war der Ordensgründer.

Für den Bischof war es ein Besuch in der alten Heimat, war er doch ein Sohn Herzog Albrechts II. zu Braunschweig und Lüneburg. In seiner Heimatstadt schied die Oker nicht nur die Erzbistümer Magdeburg im Osten und Mainz im Westen. An der Oker endete auch seine eigene Diözese, was bis drei Jahre zuvor nicht problematisch war, denn jenseits des Flusses war sein Bruder Albrecht Bischof der Diözese Halberstadt. Nun aber war dort der gerade zwanzigjährige Ludwig von Meißen Bischof und der schien ehrgeizig zu sein, da hieß es Vorsicht walten zu lassen. Mit der Weihe einer Kirche in der „geteilten“ Stadt Braunschweig, hart an der Bistumsgrenze, konnte der Bischof Präsenz demonstrieren.

Fast 20 Jahre hatte der Bau des Hohen Chores gedauert und es sollte noch genau ein volles Jahrhundert vergehen, bis mit der Vollendung der dreischiffigen Halle die ganze Klosterkirche fertiggestellt war. Wie kam es zu einer solch langen Bauzeit? Um darauf eine mögliche Antwort zu finden, müssen wir einen Blick auf Braunschweig zum Ausgang des Mittelalters werfen. Um den Burgbezirk in der Mitte lagen ringförmig die Weichbilder Hagen, Alte Wiek, Altstadt, Sack und Neustadt. Jedes hatte eine eigene Verwaltung mit eigenem Rathaus und einer Pfarrkirche. Zu diesen bürgerlichen Pfarrkirchen gesellten sich der Dom mit dem angeschlossenen Blasiusstift, der Burgkapelle St. Georg und Gertrud sowie die St. Annenkapelle. Neben dem Franziskanerkloster (heutige Brüdernkirche) und dem Dominikanerkloster am Bohlweg lag im Süden der Stadt das Benediktinerkloster St. Aegidien. Vor den Toren der Stadt bestanden noch das Kreuzkloster und das Cyriakusstift und weiter entfernt das Zisterzienserkloster Riddagshausen. Innerhalb der Weichbilde gab es zusätzlich zu den Pfarrkirchen noch die Templerkirche St. Matthäi, die St. Autorskapelle, die St. Jakobskapelle, die Kapelle zum Heiligen Geist, die St. Jodocikapelle, die St. Johanniskapelle, die Marienkapelle, die St. Nicolaikapelle, die St. Paulskapelle, die Kapelle St. Thomae und Stephani sowie außerhalb der Stadt die St. Leonhardkapelle. Eine beeindruckende Liste, vor allem wenn man bedenkt, daß es die Spenden der Einwohner Braunschweigs waren, die diese Bauten überhaupt ermöglichten. Und Bauunterbrechungen oder Verzögerungen hingen auch stets mit dem manchmal spärlichen Spendenaufkommen zusammen. 

Ganz besonders gilt dies natürlich für die beiden Bettelordenskirchen der Franziskaner und Dominikaner. Sie mußten nämlich alles vom Bau bis zum Bedarf des täglichen Lebens auf den Straßen der Stadt erbetteln, wobei nicht verschwiegen werden soll, daß gerade die in den mittelalterlichen Städten sehr beliebten Franziskaner oftmals auch große Geldzuwendungen erhielten. Das war auch schon bei der Gründung des Franziskanerklosters der Fall gewesen und dabei ist vor allem an die Familie von Bortfeld zu denken. Blicken wir noch weiter in die Geschichte zurück.

Recht bald nach dem Tode des Ordensgründers Franz von Assisi gründete der junge Orden in Hildesheim seine erste Niederlassung in Norddeutschland. Wann genau die Franziskaner dann von dort nach Hildesheim kamen ist genauso ungewiss wie die Vorstellung, daß Kaiser Otto IV. sie geholt hat. Tatsache ist jedoch das Mitwirken der Familie von Bortfeld. Auf einem ihnen gehörenden großen Hof im Norden der Altstadt, unmittelbar an der Grenze zur Neustadt und zum Sack stellten sie den Mönchen eine Kemenate zur Verfügung. Diese Kemenate besteht noch heute, wenn auch in veränderter Form: die Kapelle auf der Südseite des Hohen Chores. Auf dem Areal wurde dann auch die erste Kirche mit den anschließenden Klausurgebäuden erbaut. Über deren genaue Anlage, Größe und Aussehen können wir keine Aussagen treffen. Auch archäologische Grabungen die Mitte der 70ziger Jahre in der Brüdernkirche durchgeführt wurden, ergaben keine Antworten auf diese Frage. Vermutlich stand die erste Klosterkirche dort, wo sich heute die Hallenkirche erhebt. Nach Fertigstellung des Hohen Chores wäre sie dann abgebrochen worden, um dem Neubau Platz zu machen. Vielleicht stand sie aber auch weiter südlich der heutigen Kirche und wir könnten die Südwand des Kreuzganges mit der romanischen Pforte und den romanischen Fenstern darüber als die Südwand der ersten Klosterkirche deuten.

Wie dem auch sei, durch ihre seelsorgerische und diakonische Tätigkeit in der Stadt erfreuten sich die Franziskaner einer großen Beliebtheit und erhielten starken Zulauf. Deshalb wurde um 1343 mit einem Neubau begonnen. Die Beliebtheit der Franziskaner war bei den Bürgern der Städte so hoch, daß manch ein Bürger sich vor seinem Tode noch ins Kloster begab, um in der Kutte der Mönche dort bestattet zu werden. Man wähnte sich dann am Jüngsten Tage näher am Heilsgeschehen. Alte Grabsteine aus vorreformatorischer Zeit belegen, daß auch in der Brüdernkirche bestattet wurde. Im Kreuzgang sogar noch bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts. Aber auch die Stadträte nutzten die Klausurgebäude gern für ihre Versammlungen.

Neben der großen Kirche mit dem nach Süden anschließenden Kreuzgang gehörten noch weitere Gebäude zur Klosteranlage, wie der Kapitelsaal, das Schlafhaus und Wirtschaftsgebäude. Alles in allem dürfte der heutige Gebäudekomplex zwischen den Straßen Hintern Brüdern, Kannengießerstraße, Alter Zeughof und Schützenstraße die mittelalterliche Klosteranlage recht genau widerspiegeln.

Aus der Zeit der Mönche sind in unserer Kirche neben dem Hochaltar noch das Mönchsgestühl (das einzige in Braunschweig und Umgebung) und das Relief des Ordensgründers erhalten. Außerdem Hochaltar gab es in der Kirche noch mindestens acht weitere Altäre. Der Hohe Chor und das Kirchenschiff waren durch einen vermutlich aus Stein gebauten Lettner voneinander getrennt: der Chor war den Mönchen vorbehalten, während die Gläubigen im Kirchenschiff bleiben mussten.

Nach der Reformation

Mit der Einführung der Reformation kam das Ende des Klosters. 1528 verließen die Franziskaner unter Mitnahme der wichtigsten und wertvollsten Gegenstände Braunschweig und zogen nach Hildesheim. Während Johannes Bugenhagen in den Räumen über der heutigen Kapelle die Kirchenordnung für Braunschweig verfasste, blieb die Kirche vorerst verschlossen. Erst 1542 wurde der Gemeinde von St. Ulrici, deren baufällige Kirche auf dem Kohlmarkt stand, die Brüdernkirche als Gemeindekirche zugewiesen. Von daher rührt auch der heutige Name „St. Ulrici-Brüdern“ oder kurz "Brüdernkirche".

In der Zeit nach der Reformation erlebten die Kirchen einen enormen Zulauf von Gläubigen. Ursache war neben den großen Predigten – in unserer Kirche beispielsweise predigten die Superintendenten – das häufige Heilige Abendmahl in beiderlei Gestalt. Um allen Gläubigen Platz zu bieten, wurden zum einen des Sonntags mehrere Gottesdienste gefeiert und zum anderen wurden zusätzliche Plätze durch den Einbau großer Emporen geschaffen. Deren Brüstungen waren mit biblischen Bilderzyklen geschmückt, so wie an den Rückwänden des Chorgestühles ein Bilderzyklus der Kirchenväter und Reformatoren angebracht wurde.

Überhaupt muss man sich ein ganz anderes Bild vom damaligen Inneren der Kirche im Vergleich zu heute machen. Hoher Chor und Kirchenschiff wurden durch einen neuen großen Renaissance-Lettner (heute am Westeingang der Kirche) getrennt. Im Kirchenschiff stand ein festes Gestühl, daß baulich in einzelne Abteilungen unterteilt war. Jeder hatte hier seinen festen Platz, für den er zahlen musste. Auf dem Fußboden und an den Wänden befanden sich zahlreiche Grabplatten und Epitaphien. Überragt wurde das alles von einer Kanzel, den Emporen und im Westen von einer großen Orgel. An den Wänden hingen darüber hinaus noch viel Gemälde biblischen Inhalts. Je eine große Flämische Krone spendete jetzt im Chor und im Kirchenschiff Licht. Lediglich der Hohe Chor hatte sein mittelalterliches Aussehen bewahren können. Fürderhin war dieser Teil der Austeilung des Abendmahles vorbehalten.

Viele der eben genannten Ausstattungsteile waren Stiftungen von Handwerksinnungen oder einzelnen  Gemeindgliedern. Unter den Bildern am Chorgestühl haben sich die Namen der Stifter bis heute erhalten. Ach wurden in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten mehrere Stiftungen in der Gemeinde gegründet. Zwei von ihnen bestehen noch heute in Gestalt der „Vereinigten Gemeindepflegestiftung – Fritzesches Legat von 1766 an St. Ulrici zu Braunschweig.“

Auch die ehemaligen Klosterbauten erhielten andere Nutzungen. Viele Räume wurden zu Wohnzwecken umgebaut, einen großen Teil nutzen erst die Stadt und dann die Landesherrschaft als Zeughaus, also als Magazin für Waffen und Gerät.

Restaurierungen, Zerstörung und Wiederaufbau

Immer wieder waren auch große Maßnahmen zur Bauunterhaltung vonnöten. Nach den Umbauten der Reformationszeit fand 1763 eine erste große Renovierung statt. Dabei wurden sicherlich schon einige der älteren, mittelalterlichen Ausstattungsteile entfernt. Sodann müssen die Restaurierungen von 1861-65 und von 1903-04 genannt werden. Diesen Maßnahmen fielen dann die Veränderungen des 17. und 18. Jahrhunderts zum Opfer, weil man sie damals als künstlerisch unwichtig einstufte. Ziel war nunmehr die Wiederherstellung des gotischen Charakters, so wie man ihn in dieser Zeit auffasste. Es gab jetzt einen neugotischen Lettner, eine neugotische Kanzel und ein neugotisches Gestühl. Die Emporen, Bilder, Grabplatten und einige Epitaphe wurden ausgebaut und dafür die Wandflächen mit großformatigen Schablonenmalereien versehen. Teile des Renaissancelettners wurden an die Wandflächen in der Südostecke der Kirche montiert.

Auch der Kreuzgang wurde wieder in seiner ursprünglichen Form hergestellt, nachdem er über ein halbes Jahrhundert für die Zwecke von Stadtarchiv und Stadtbibliothek um- und zugebaut war.

In diesem Zustand verblieb die Kirche bis zu den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges. Dann versank die Kirche in Trümmern. Alle Dächer, die mittelalterlichen Dachstühle und die Fenster waren zerstört, aber die Gewölbe hatten standgehalten. Lediglich in der Südwestecke des Kirchenschiffs waren ein Gewölbe und die Außenmauer zerstört. Von den Klostergebäuden standen nur noch die Außenmauern. Wie durch ein Wunder hatten das Chorgestühl, der eingemauerte Hochaltar, die bronzene Taufe mit ihren Gittern, die neugotische Kanzel und der neugotische Lettner den Krieg überstanden. Und wie durch ein Wunder begann sich erst in den Ruinen und dann in der Kapelle, wieder eine Gemeinde um ihren Hirten zu sammeln. Es war Pastor Max Witte, der mit seinen Predigten die Menschen aufrüttelte und sie in die Kirche zog. Unter ihm erhielt die Gemeinde ihre heutige geistige Ausprägung, ihren festen Glauben an Gottes Wort und die große Liebe zum Heiligen Abendmahl.

In den fünfziger Jahren wurden die Dächer wieder aufgerichtet und zuerst die Kapelle dann der Hohe Chor wieder für die Gottesdienstfeiern hergerichtet. Das Kirchenschiff musste noch Jahrzehnte warten. Dem unermüdlichen Einsatz der Pastoren Seebaß, Lieberg und Diestelmann ist es zu verdanken, daß zum Jubiläum der Reformation im Lande Braunschweig die Kirche im Jahre 1978 die Bauarbeiten beendet werden konnten. Damit war auch die letzte der zerstörten Kirchen Braunschweigs wiederhergestellt.

Und heute, 650 Jahre nach der Weihe des Hohen Chores, bestimmen wieder Gerüste und Bauleute das Bild unserer Kirche. Die Fassade muss gereinigt und neu verfugt werden. Zu sehr hatten Witterung, Umweltverschmutzung und Kriegseinwirkungen ihr zugesetzt. Als zusätzlichen Schutz erhält die Fassade jetzt eine helle Schlämmung, die das dahinterliegende, unregelmäßige Mauerwerk zwar erkennen lässt, es aber zugleich vor den direkten Einflüssen von Wind und Wetter schützt. Das hatten schon unsere Altvorderen so gehandhabt, aber wohl im 19. Jahrhundert wurden Schlämmungen und Verputze überall entfernt – es sah den damaligen Zeitgenossen nicht mittelalterlich genug aus.

Nisi dominus frustra

Michael Heinrich Schormann